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Interview: Ingrid Noll – „Ich schreibe Menschengeschichten“

Der Titel nimmt das Verbrechen schon vorweg. Denn im wahrsten Sinne Über Bord geht das Mordopfer in Ingrid Nolls aktuellem Roman, den sie zum Start ihrer Lesereise am 30. August im Stern Verlag Düsseldorf vorstellt.

Sie gilt als die Grande Dame der deutschen Krimiautoren. Dabei begann Ingrid Noll erst mit dem Schreiben, als die Kinder aus dem Haus waren. Dafür landete sie gleich mit ihrem 1991 erschienen Debüt „Der Hahn ist tot“ einen Bestseller, der ebenso wie drei weitere ihrer Krimis verfilmt wurde.

Nolls Markenzeichen sind Morde, die beinah beiläufig passieren und von Frauen begangen werden, die damit auch noch ungeschoren davonkommen. Auf die Frage, ob ihr deshalb schon einmal jemand mit Vorsicht begegnet ist, lacht die 76-jährige: „Ich hoffe nicht.“ Sie sei „friedliebend und harmoniesüchtig“, gibt die Autorin im Gespräch mit Culture & Spirit zu und schiebt schmunzelnd hinterher: „Lieber tobe ich mich in meinen Büchern aus.“

Die fallen in den letzten Jahren gar nicht mehr so bitterböse wie zu Beginn ihrer Laufbahn als Schriftstellerin aus. Auch die Krimielemente überwiegen längst nicht mehr. Schon Ladylike war eher ein Unterhaltungsroman. Mit Über Bord setzt Ingrid Noll die eingeschlagene Richtung fort.

In einer Villa leben drei Generationen unter einem Dach. Ellen mit ihrer Tochter Amalia und ihrer Mutter Hildegard. Die scheinbare Idylle wird getrübt, als eines Tages Gerd Dornfeld hereinschneit und behauptet, Ellens Halbbruder zu sein. Die drei Frauen gehen jede auf ihre Weise mit dieser Neuigkeit um. Ein DNA-Test könnte eigentlich Gewissheit bringen.

Aber Über Bord wäre kein Ingrid Noll Roman, wenn da nicht so manche Klippe auf die Protagonisten warten würde, die zu umschiffen wäre.

Ein Teil der Handlung spielt auf einem Kreuzfahrtschiff, auf dessen Decks sich ziemlich schräge Typen tummeln. Da konnte die „hoffnungslose Landratte“ Noll auf eigene Erlebnisse zurückgreifen. „Ich wollte schon immer mal meine Kreuzfahrt-Erfahrungen in einem Roman unterbringen und dass ein Fremder kommt und behauptet, ich bin ihr Bruder“, schmunzelt die Autorin.

Das birgt durchaus kriminelles Potential. Allein Frau Noll macht nicht viel aus der Idee. Die Geschichte will nicht so richtig in Gang kommen und verliert sich leider zu sehr in unwichtigen Details und Nebenschauplätzen.

Dennoch blitzt immer wieder der noll’sche Humor durch, den ihre Leser an ihr so mögen und mit dem sie auch das nachstehende Gespräch würzt.

Ladylike hatte ja schon weniger Krimielemente, als frühere Bücher. Auch Über Bord wirkt mehr wie ein Unterhaltungs- oder Frauenroman als ein Krimi. Strecken Sie die Fühler nach einem neuen Genre aus?

„Ich war eigentlich nie richtig in der Krimischublade drin. Ich möchte mich auch gar nicht so gern qualifizieren lassen. Ob ich nun einen Familien- oder Unterhaltungsroman schreibe oder einen Krimi: ich schreibe Menschengeschichten! Mir kommt es darauf an Menschen zu portraitieren und zu beschreiben, wie sie sich verhalten. In diesem Fall wie sich Geschwister und Verwandte untereinander verhalten. Psychogramme sind mein Thema.“

Die Protagonistinnen leben in einem Mehr-Generationen-Haus. In einem anderen Roman haben Sie eine Senioren-WG beschrieben. Wäre das ein Modell für die Zukunft?

„Ich bin mir nicht sicher, ob man das verallgemeinern kann. Was bei dem einen klappt, funktioniert bei anderen überhaupt nicht. Ich selber hatte lange Jahre meine Mutter im Haus. Wir haben sie mit 90 Jahren zu uns genommen. Da waren unsere drei Kinder schon erwachsen und sind ausgezogen. Dadurch war ein schönes Balkonzimmer frei und meine Mutter konnte zu uns ziehen. Sie wurde 106. Bis sie 102 wurde, war sie sehr fit. Sie hat im Garten gearbeitet und war sehr autark. Das heißt, sie hing nicht ständig bei uns herum. Sondern sie hatte ihr eigenes Programm. Wir haben nur gemeinsam gegessen. Natürlich haben wir auch mal miteinander geschwätzt. Aber es war nie der Zwang, dass sie immer bei uns hockte. Ich denke, es hat auch deshalb funktioniert, weil meine Mutter diskret und selbständig war. Dann hatte sie sich ein Bein gebrochen und war die letzten vier Jahre trotz Operation ein Pflegefall. Das war nicht so einfach. Diese Belastung schafft nicht jeder, vor allem dann nicht, wenn er nicht ständig zuhause sein kann.“

Ich denke bei einem Mehrgenerationen-Modell ist auch der Platz ein wesentlicher Faktor oder?

„Das denke ich auch. Wenn jemand nur zwei Zimmer hat, geht es nicht. Wir haben ein großes Haus, da klappte es auch, wenn beispielsweise über Weihnachten die Kinder und Enkel für ein paar Tage zu Besuch kamen. Aber das funktioniert nur, wenn alle Beteiligten kompromissbereit sind und sich entsprechend benehmen.“

Bei Ihnen wirken die Todesfälle immer so ‚normal’ wie Hausputz oder Gartenarbeit.

„Ich mag einfach diese Gedankenspiele. Denn jeder hat doch sicher schon einmal eine Situation erlebt, in der man einem anderen, etwas Übles wünscht. Natürlich würde man diesem Menschen nie im Leben ein Härchen krümmen. Aber für eine Sekunde, darf man ihm die Pest an den Hals wünschen, finde ich. Im Roman habe ich die Möglichkeit, das eine oder andere auch mal auszuprobieren.“

Ist Ihnen schon einmal jemand mit Vorsicht begegnet – wer weiß, was sie als nächstes ausheckt?

„Nein – ich hoffe doch nicht. (lacht) Wer mich näher kennt weiß, dass ich jeder Aggression lieber aus dem Weg gehe. Ich bin sehr friedliebend und harmoniebedürftig. Ich mag keinen Streit. Ich leide immer sehr, wenn es Unstimmigkeiten gibt. Ich tobe mich lieber in meinen Büchern aus.“

Ihre Figuren kommen immer irgendwie damit durch, auch wenn sie nicht glücklich werden. Was reizt Sie an solchen Charakteren, die sind ja nicht immer sympathisch?

„Ich glaube, Sympathie für die Charaktere und ihr Handeln ist gar nicht nötig, aber ich möchte, dass die Leser ihre Beweggründe verstehen. Ich empfinde auch nicht für jede Figur, die ich beschreibe uneingeschränkte Sympathie. Aber ich krieche wie eine Schauspielerin in ihre Seele hinein und versuche zu beschreiben, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten, wie sie empfinden und wie sie entscheiden.

Sie könnten einen Kommissar einfügen …

„Das hat mich noch nie wirklich gereizt. Erst einmal verstehe ich von der Ermittlungsarbeit nicht so viel, dass ich die korrekt beschreiben könnte. Ich möchte auch keine Geschichte schreiben, bei der man herausfinden muss, wer es war. Das ist bei mir immer klipp und klar. Mich interessiert viel mehr das Warum. Wie kommen diese Leute dazu, jemanden umzubringen? Welche Konflikte hat es vorher gegeben? Vielleicht wurde ja jahrelang etwas unter den Teppich gekehrt und hat sich so angestaut, dass es unweigerlich um Knall kommen muss.“

Die DNA spielt im Roman eine wichtige Rolle. Was hat Sie zu dieser Zutat bewogen?

„Das ist ein Thema, das mich sehr interessiert, weil man inzwischen mit Hilfe der DNA-Analyse so viel aufdecken kann, was sonst unaufgeklärt geblieben wäre. Beispielsweise bei uralten Verbrechen, die durch die DNA-Analyse ans Tageslicht kommen oder unschuldig Verurteilte, die auf diese Weise ihre Unschuld beweisen können. Hinzu kommt, dass ich schon öfter gehört habe, dass beim Tod eines Angehörigen Dinge herauskamen, von denen niemand vorher etwas geahnt hatte. Beispielsweise habe ich von einer Frau gehört, die auf diese Weise erfahren hat, dass sie noch Geschwister in Russland hat, da ihr verstorbener Vater dort als Besatzungssoldat stationiert gewesen ist. Zum Thema Besatzungssoldaten habe ich kürzlich auch einen Beitrag im Fernsehen gesehen und zwar über die so genannten brown Babys. Damit sind die Kinder von farbigen Besatzungssoldaten gemeint, die nach dem Krieg nach Amerika adoptiert wurden. Und zwar hatte das Jugendamt den Müttern eingeredet, dass sie mit einem farbigen Kind nur Probleme bekommen würden und sie haben vorgeschlagen, die Babys zur Adoption in die USA zu geben. Viele haben das nicht getan, aber manche haben sich beschwatzen lassen. In den Vereinigten Staaten war es so, dass schwarze Amerikaner keine Kinder adoptieren durften. Aber es doch gerne wollten, wenn sie selbst keine Kinder bekommen konnten. Auf diese Weise bekamen sie die Möglichkeit dazu. Diese Kinder sind inzwischen in einem gesetzteren Alter und haben versucht, ihre leiblichen Eltern oder mögliche Geschwister ausfindig zu machen. Das ist ein sehr spannendes Thema finde ich.“

Wie sind Sie auf die Idee zum Buch gekommen?

„Ich wollte schon immer mal meine Erfahrungen auf Kreuzfahrten in einem Buch unterbringen. Und natürlich die Geschichte, dass da jemand kommt und sagt, ich bin dein Bruder. Stellen Sie sich vor, Sie finden heraus, Sie haben noch Geschwister.“

Das birgt durchaus kriminelles Potential, vor allem wenn es ums Erbe geht.

„Das ist der eine Aspekt, der andere ist der menschliche. Sind sich die Geschwister ähnlich oder sind sie doch total verschieden? Sie sind völlig anderes aufgewachsen. Spielt das eine Rolle? Wie gehen die einzelnen Familienmitglieder mit dieser neuen Situation um? Das finde ich ungeheuer spannend zu beschreiben.“

Im Buch kommt ein Hundetrainer mit einer Art Psychocamp für Hunde vor. Er ist nicht der einzige etwas schräge Typ auf dem Schiff. Trifft man solche Menschen tatsächlich auf einer Kreuzfahrt? Haben Sie selbst schon mal eine mitgemacht?

„Der Trainer entspricht meiner Phantasie. Ich wollte gern ein paar exzentrische Typen an Bord haben und da kam mir die Idee, so einen Charakter einzubauen. Ich habe schon mehrere Kreuzfahrten mitgemacht. Ich war als Autorin für Lesungen dazu eingeladen worden. Das gab mir reichlich Gelegenheit die Mitreisenden zu beobachten.“

Auf so einem Schiff kann man den Mitreisenden ja nicht wirklich auf Dauer aus dem Weg gehen, besonders wenn sie etwas schräg drauf sind.

„Ich bin ehrlich gesagt eine hoffnungslose Landratte. Deshalb habe ich mir immer die Kreuzfahrten ausgesucht, die sehr viele Landausflüge anboten. Man muss sich ja nicht an den Besichtigungsprogrammen beteiligen, sondern kann auf eigene Faust losziehen. Ich muss allerdings sagen, man trifft auf solchen Reisen auch immer wahnsinnig nette Menschen.“

Hatten Sie, als Sie mit dem Roman anfingen, die ganze Geschichte bereits im Kopf?

„Den roten Faden habe ich auf jeden Fall im Kopf und natürlich die einzelnen Personen. Die Figuren sind auch zuerst da. Ich muss wissen, über wen ich da schreibe. Wie alt sind sie, welchen Beruf haben sie, welchen Charakter? Ich weiß über sie mehr, als im Buch dann tatsächlich vorkommt. Die müssen für mich einfach lebendig werden.“

Einige Ihrer Bücher sind erfolgreich verfilmt worden und Ihre Beschreibungen sind immer so detailliert, dass der Leser wie im Kino die Geschichte in Bildern vor sich vorbeiziehen lassen kann. Beeinflusst Sie das Kino beim Schreiben?

„Eher unabsichtlich. Aber ich bin ein sehr visueller Mensch. Ich muss mir, bevor ich schreibe, alles vorstellen, vor allem die Menschen. Sonst denke ich, wären die Geschichten und Charaktere nicht glaubwürdig. Ich kreiere allerdings meine Figuren. Es gibt für keine realen Vorbilder, die ich 1 zu 1 übernehme. Ich kenne sehr viele Menschen – das ist das Gute an meinem hohen Alter. Auf diese Weise habe ich viele Anregungen, um mir daraus dann das Personal für meine Bücher zu basteln.“

Sind Lesungen Pflicht oder Kür für Sie?

„Ich mache es sehr gerne, auch wenn es anstrengend ist. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste. Ich werde demnächst 77 und mein Mann ist auch nicht mehr so gesund. Deshalb bin ich natürlich immer etwas besorgt, wenn ich lange unterwegs bin. Aber trotzdem mache ich gerne Lesungen. Denn das Schreiben ist ja nun doch eine sehr einsame Tätigkeit. Auf den Reisen, lerne ich meine Leser kennen und kann auch ihre Fragen beantworten.“

Sie werden Ihre aktuelle Lesetour in Düsseldorf starten. Haben Sie Zeit zum bummeln?

„Ich habe nie so viel Zeit, wie ich gerne hätte. Zum einen kommen noch Pressetermine dazwischen und zum anderen ruhe ich mich gern kurz vor einer Lesung im Hotel aus. Trotzdem, wenn es irgend geht, mache ich einen kleinen Stadtbummel. Für ausführliche Museumsbesuche ist die Zeit aber leider immer zu kurz. Allerdings war ich einmal im Museum Kunstpalast zur Caravaggio-Ausstellung. Ich hatte extra dazu eine Kurzgeschichte geschrieben, die ich auch im Museum vorgelesen habe. Vorher konnte ich mir die Ausstellung in Ruhe ansehen. Umgeben von diesen Bildern, war das eine wunderbare Erfahrung.“  

Sie lassen sich immer viel Zeit für den nächsten Roman. Haben Sie schon Ideen für ein neues Buch?

„Alle zwei Jahre kommt ein Roman von mir heraus. Aber dazwischen mache ich auch noch andere Sachen. Ich schreibe viele Kurzgeschichten oder gehe auf Lesereisen. Auch zuhause habe ich Programm. Beispielsweise wohnen alle meine Enkelkinder hier in Weinheim und einmal in der Woche am Nachmittag sind alle bei mir. Meiner zwölfjährigen Enkelin gebe ich zusätzlich noch zweimal pro Woche Nachhilfe.

Für den nächsten Roman habe ich schon die Personen. Aber ich will darüber noch gar nicht so viel reden, denn es dauert ja noch länger, bis er herauskommt.“

Fällt es Ihnen leichter Kurzgeschichten zu schreiben oder Romane?

„Ich schreibe gerne Kurzgeschichten, denn man braucht dafür nicht den ganz langen Atem. Aber im Gegensatz zum Roman zäumt man das Pferd dabei von hinten auf. Da am Schluss ja immer ein AHA-Effekt oder eine Poente kommt, muss man das schon von Anfang an wissen. Wohingegen beim Roman habe ich zwar meinen roten Faden und meine Figuren. Aber die einzelnen Szenen kommen dann erst beim Schreiben.“                 

Das Interview führte Claudia Hötzendorfer

Ingrid Noll auf Lesereise mit Über Bord

30. August 2012 – Düsseldorf/Buchhaus Stern Verlag

14. September 2012 – Erfurt/Buchhandlung Hugendubel

02. Oktober 2012 – Ulm/Buchhandlung Hugendubel

10. Oktober 2012 – Frankfurt/Frankfurter Kunstverein

03. November 2012 – Hamburg/Kampnagel K6

weitere Termine unter: www.diogenes.c

Buchtipp:

Ingrid Noll

Über Bord

(Diogenes 2012, 336 S., € 21,90)

© Claudia Hötzendorfer 2012 – Silent Tongue Production