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Interview: Christian Rätsch

Weltweit studierte Christan Rätsch schamanische Kulturen. Drei Jahre lang lebte er beim Stamm der Lakandonen in Südamerika. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse hat er in zahlreichen Büchern und Vorträgen weitergeben. Im Gespräch mit moodWay steht Rätsch dem Interesse am Schamanismus äußerst kritisch gegenüber.

Es heißt, zu einem Schamanen wird man durch ein Einweihungserlebnis. Gab es so eine einschneidende Erfahrung auch für Sie?

  • „Als ich vom Stamm der nördlichen Lakandonen aufgenommen wurde, war das für mich wie eine Einweihung. Dazu musste ich erst einmal ihre Sprache lernen und lange bei ihnen leben. Als ich mich schließlich selbst versorgen und mich mit ihnen verständigen konnte, haben sie mich in ihren Stamm integriert und mich in die Geheimnisse des Heilens und in ihre Rituale eingeführt.“

Mit welchen Vorstellungen sind Sie zu den Lakandonen gegangen?

  • „Ich fing nach dem Abitur gleich an zu studieren und zwar Altamerikanistik bzw. altamerikanische Sprachen und Kulturen. Dabei lernte ich die Sprache der Maya und stieß in der Literatur auf Bilder der Lakandonen. Ich las, dass sie bis heute nicht erobert und christianisiert wurden und immer noch nach der alten Kosmologie der Maya leben. Da wusste ich, dass ich dort in jedem Fall hinmuss. Das war ein persönliches und gleichermaßen wissenschaftliches Interesse.“

Wie hat der Stamm denn auf Sie reagiert?

  • „Die waren begeistert. Ich war zum einen kein Missionar und zum anderen hatte ich wie sie lange Haare (lacht). Ich denke der Türöffner war mein Interesse an ihrer Kultur. Sie merkten recht schnell, dass ich wirklich ihre Welt kennen lernen wollte und so haben sie mich in alles eingeführt. Wie man von anderen Menschen gesehen und aufgenommen wird, hängt viel mit dem eigenen Herzen zusammen. Ich habe an allem teilgenommen. Auf diese Weise habe ich die ganze Kultur des Stammes erlebt. Ich habe gelernt, wie man im Wald überlebt. Ich lernte, welche Pflanzen man für was braucht, welche Tiere man jagen kann.“

Gab es Dinge, mit denen Sie nie gerechnet hätten?

  • „Oh ja. Ursprünglich wollte ich meine Dissertation über den Heilpflanzengebrauch der Lakandonen schreiben. Musste aber vor Ort dann feststellen, dass die praktisch überhaupt keine Pflanzen zum Heilen nutzen, sondern hauptsächlich Zaubersprüche. Die habe ich dann weiter erforscht. Das war schon sehr erstaunlich für mich. Zumal man gemeinhin ja glaubt, dass der Regenwald eine Unmenge von unentdeckten Medikamenten zu bieten hat.“

War es dann nicht ein Schock, als Sie wieder in Ihre Welt zurückgekehrt sind?

  • „Im Gegenteil, es hat mir überhaupt erst die Augen für unsere Kultur geöffnet. Ich habe eine ganze Menge aus meiner Zeit bei den Lakandonen mitgenommen. Das Erlebnis in einer heidnischen Kultur zu sein, brachte mich an meine eigenen kulturellen Wurzeln zurück. Ich bin heidnisch aufgewachsen, mit der Mythologie der alten Germanen. Und diese mythologische Welt fand ich bei den Lakandonen wieder. Nach meiner Rückkehr habe ich mich weiter in dieses Thema vertieft. Dieses ursprüngliche Sein zu erleben, war für mich großartig. Auch zu sehen, wie die Kinder der Lakandonen in die Welt hineingewachsen und darin groß geworden sind, hat mich sehr berührt.“

Weiß man etwas über den Ursprung des Schamanismus?

  • „Eigentlich weiß man nichts über den Ursprung des Schamanismus. Aber er ist auf jeden Fall in der Steinzeit von Urmenschen bereits betrieben worden. Darauf kann man aufgrund der Ausgrabungen von Hinterlassenschaften dieser Leute schließen. Man kann sagen, dass der Schamanismus das älteste System der Welt ist, das fast auf dem gesamten Globus verbreitet war. Heute findet man ihn nur noch in großen Teilen Südamerikas und im Himalaja-Gebiet.“

Wie stehen Sie zum Boom selbsternannter Schamanen, die ihr ‚Wissen“ in Seminaren weitergeben?

  • „Das ist völliger Quatsch. Ich halte nichts davon, weil das unter einer falschen Prämisse läuft. Die Leute denken es sei toll ein Schamane zu sein und möchten das gern werden. Also besuchen sie ein Wochenend-Seminar wo ein wenig getrommelt wird und ein paar Fantasiereisen abgespult werden. Sie denken, das reicht, um ein Schamane zu sein. Aber das ist natürlich völliger Irrsinn. Alle traditionellen Schamanen müssen jahrelange Lehren durchlaufen und unglaublich viele Kenntnisse und ein großes Wissen erwerben. Da versteht es sich von selbst, dass man das an einem Wochenende sicher nicht bekommt. Da reicht auch das Trommeln allein nicht aus. Dazu gehört viel mehr. Klar gesagt, diese ganzen Angebote – egal ob nun hier oder anderswo – die in Workshops und Seminaren schamanisches Wissen vermitteln sollen, haben mit dem richtigen Schamanismus überhaupt nichts zu tun.“

Jetzt haben wir drüber gesprochen, was Schamanismus nicht ist. Definieren Sie doch bitte für unsere Leser einen Schamanen.

  • „Ein Schamane ist ein Mensch, der von der anderen Welt dazu berufen wurde, als Heiler, Ratgeber und Erzähler für sein Volk tätig zu sein. Er hat die Fähigkeit, mit welchen Mitteln auch immer, in andere Wirklichkeiten einzutauchen und dort so Veränderungen zu erzeugen, dass es für seine Patienten oder seinen Stamm nützlich ist.“

In Ihren Büchern ist zu lesen, dass auch die Germanen eine schamanische Kultur hatten. Also warum in die Ferne schweifen, wenn die Europäer doch eigene schamanische Wurzeln haben?

  • „Das liegt hauptsächlich daran, dass die wenigsten wissen, dass wir vor der Haustür nach dem Schamanismus suchen können und natürlich auch daran, dass die Germanen und ihre Kultur durch die Nationalsozialisten stigmatisiert wurden. Völlig zu Unrecht natürlich. Aber dadurch gibt es eine Berührungsangst.“

Wer Ihre Aufzeichnungen verfolgt lernt, dass der Schamanismus für den zum Schamanismus berufen wurde, kein Spaziergang ist. Warum glauben Sie, fühlen sich trotzdem so viele davon angezogen?

  • „Die Antriebsfeder ist meist die Suche nach kulturellen Wurzeln und nach kultureller Geborgenheit. Aber eben auch die Suche nach Antworten auf die großen Fragen wie: woher komme ich? Was mache ich? Wohin gehe ich? Antworten darauf werden in traditionellen Kulturen durch Schamanen meist durch Rituale vermittelt.“

Sie sagen, Schamanismus funktioniert nicht in monotheistisch ausgerichteten Religionen. Warum nicht?

  • „In der schamanischen Welt gibt es unzählige Götter und Wesenheiten, die ein sehr komplexes System in der Kosmologie einnehmen und die alle ambivalent sind. In der schamanischen Welt gibt es kein gut und böse. Das ist in monotheistischen Religionen anders. Die Schamanen kennen nur ein schädlich oder nützlich. Deshalb ist es ihre Aufgabe, die Menschen mit ihrer Umwelt in eine harmonische Eintracht zu bringen.“

In Der heilige Hain schreiben Sie, „Durch Spiritualität werden Universum und Kosmos erfahrbar.“ Religion kann das demnach nicht?

  • „Nein. Denn Religion ist ein Glaubensystem. Man muss an ein festgelegtes Dogma glauben. Spiritualität hingegen ist Erfahrung. Das heißt, ohne die Vermittlung von Priestern erfährt man die Welt und damit kann man die Welt geistlich erfassen und durchdringen. Denn Spiritualität ist die geistige Erfassung der natürlichen Welt.“

Sie halten Vorträge vor Apothekern und Kardiologen. Hat sich die Akzeptanz der Ethnomedizin verändert?

  • „Nach meiner Erfahrung wächst das Interesse unter Medizinern und Heilberuflern am Schamanismus bzw. an der Ethnomedizin, weil sie merken, dass die westliche Medizin – so gut, wie sie auch sein mag – doch ihre Grenzen hat. Über diese Grenzen hinaus führt der Weg eben zum Schamanismus. Das ist aber noch ein langer Weg, denn in der Ethnomedizin wird man natürlich mit ganz anderen Sichtweisen auf den Kosmos konfrontiert. Hier und da ist mittlerweile ein Umdenken im Gange. Manche Leute sehen es wie ich, dass sich die Schul- und die Ethnomedizin nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen. Beides hat seine Vor- und Nachteile.“

Was wünschen Sie sich für die Ethnomedizin in der Zukunft?

  • „Ich würde mir Kliniken wünschen, in denen Schulmediziner neben ayurvedischen und tibetischen Ärzten, Schamanen und Geistheilern praktizieren. Und dass die kranken Menschen das jeweils für sie individuell richtige ethnomedizinische Angebot bekommen.“

Claudia Hötzendorfer

Buchtipps: (Auswahl)

  • Christian Rätsch
  • Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen
  • Walpurgisnacht
  • Räucherstoffe
  • Ayahuasca
  • Der Heilige Hain
  • Weihrauch und Copal

(alle bei AT erschienen)

  • Christian Rätsch, Sergius Golowin u. a.
  • Das Lexikon des Dunklen

(Arun 2007)

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