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Interview: Cheryl Strayed über ihren großen Trip auf dem Pacific Crest Trail

Soweit die Füße tragen oder wie Cheryl Strayed gehend zu sich selber fand

Mit Anfang 20 fiel Cheryl Strayed in ein tiefes Loch. Ihre Mutter war mit gerade einmal 45 Jahren an Krebs gestorben. Die Trauer übermannte die junge Frau so sehr, dass sie begann immer öfter Risiken einzugehen, um den Schmerz zu betäuben. Sie zerstörte ihre Ehe, begann Heroin zu nehmen. Durch Zufall fiel Cheryl eines Tages ein Wanderführer für den Pacific Crest Trail in die Hände. Ein Weg, der über tausend Meilen durch die Wildnis führt und dem Wanderer aufgrund der klimatischen und Geländebedingungen alles abverlangt.

Vier Jahre nach dem Tod der Mutter nahm Cheryl 1995 die Herausforderung an und lief los. Mit Schuhen, die eine Nummer zu klein waren, einem Rucksack, den sie kaum heben konnte und den sie Monster taufte, aber den Willen, es zu schaffen.

Die zweifache Mutter sprach mit Culture & Spirit über Gehen als Trauerbewältigung und darüber, warum ihr die Wildnis keine Angst machte.

Ihr Buch Der große Trip wurde mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle verfilmt und kommt am 15. Januar in die deutschen Kinos.

Hat Sie die Wanderung auf dem Pacific Crest Trail (PCT) verändert?

„Absolut. Ein Teil hat wohl auch damit zusammengehangen, dass wir alle den Prozess des Erwachsenwerdens durchlaufen. Ich war damals Anfang 20 und so sehe ich meine Wanderung auch als eine Art Geschichte des Erwachsenwerdens, der Reifeprüfung, wie eine Initiationsreise.

In unserer westlich geprägten Kultur in den USA und auch in Europa haben wir diese Rituale des Übergangs kaum noch oder sie sind ihrer wahren Bedeutung durch die Kommerzialisierung enthoben worden. Dabei wäre gerade das Zelebrieren dieser Übergangsphasen für viele so wichtig. Wer hat heute schon noch die Gelegenheit seine eigenen Grenzen und Stärken in der Natur zu erfahren?

Genau das war es, was ich da gemacht habe. Ich wollte meinen Weg finden, von dem ich überzeugt war, dass ich ihn aus den Augen verloren hatte. Also habe ich versucht, ihn wieder zu finden, indem ich meine ganz eigene Reise kreiert habe. Das war eine Erfahrung, die mich nicht nur viel über mich selbst gelehrt hat, bezogen auf meine Stärken und Schwächen. Sondern auch bezogen auf die Dinge, die ich auf dem Trail erlebt habe, als es darum ging, warum ich überhaupt aufgebrochen bin.“

 

Einige Zeit zuvor war Ihre Mutter mit gerade 45 Jahren an Krebs verstorben.

„Ja. Ich habe um meine Mutter getrauert. Dieser Verlust war so enorm, dass ich überhaupt nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Dort auf dem Trail habe ich so viel darüber gelernt, was es heißt, Dinge als gegeben zu akzeptieren, die ich nicht mehr ändern kann. Um zu verstehen, auch wenn etwas schwierig und schmerzhaft ist, muss ich meinen Weg weitergehen, lernen damit umzugehen, um den nächsten Schritt vorwärts zu machen. Ich musste also meinen inneren Frieden mit diesen Geschehnissen machen. Ich habe gelernt, dass die Anforderungen auf diesem Trail mir vermittelten, wie ich mit den Herausforderungen in meinem Leben umgehen kann. Natürlich war dieser Trip vor allem eine körperliche Strapaze, aber auch seelisch und emotional betrachtet.

Ich empfand es als Segen, denn es war wie ein Same für mein weiteres Leben, dass ich lernte, nicht aufzugeben und Dinge, die ich nicht ändern kann zu akzeptieren. Irgendwo tief in mir drin, wusste ich das schon vorher, aber ich musste es wohl auch auf eine körperliche Weise erfahren, um es wirklich zu begreifen.“

 

Hat sich Ihr Körperbewusstsein verändert?

„Absolut. Besonders Frauen werden immer nur auf Schönheit reduziert und die gilt dann als Maß aller Dinge. Wir vergessen dabei aber, was unser Körper alles für uns tut. Er hat beispielsweise meinen megaschweren Rücksack, den ich Monster getauft habe, über so viele Meilen hinweg getragen. Dabei habe ich erkannt, dass ich ihn nicht als eine Art Hülle betrachten kann, die nach außen das repräsentiert, was alle gemeinhin so von einer jungen Frau erwarten. Vielmehr war er mein Gefährte, der mich mit jedem Tag stärker werden ließ.“

Warum haben Sie sich gleich so eine Extremstrecke ausgesucht. Es gibt in den USA sicher auch leichtere Routen, die Sie hätten wandern können?

„Ich wusste schon, dass es ein schwieriger Trail ist, nur war mir nicht wirklich klar, wie schwer tatsächlich, bis ich schließlich unterwegs war. Klar haben auch einige Leute mich gewarnt. Es ging ja schon damit los, dass ich noch nie so eine lange Strecke gewandert war mit so einem schweren Gepäck auf dem Rücken. Das ist mit nichts vergleichbar, was man mal so in den Ferien an Wanderungen unternimmt. Hinzu kommt, dass der PCT so abgelegen ist, dass man tagelang keiner Menschenseele begegnet. Andererseits war es auch so, dass ich genau das wollte. Ich brauchte einfach so eine echte Herausforderung. Ich musste einfach meine Grenzen austesten.

Bevor ich losmarschiert bin, habe ich ein paar sehr gefährliche Dinge getan. Ich habe meine Ehe zerstört, indem ich Affären mit wildfremden Männern hatte und ich habe Heroin genommen. Ich bin viele Risiken eingegangen und ein Teil von mir wollte weiter Risiken eingehen, nur auf eine weniger lebensbedrohliche Weise. Es sollte ein konstruktiveres Risiko sein. Da erschien mir die Wildnis als Zufluchtsort genau richtig zu sein.“

Ihre Mutter hatte eine sehr enge Verbindung zur Natur und zu Tieren. Sie sind außerdem in Minnesota auf dem Land aufgewachsen, ohne Strom und fließendes Wasser. Hat Ihnen das geholfen, in der Wildnis klar zu kommen?

„Auf jeden Fall. Ich gehe sogar soweit zu sagen, der Grund warum ich mich für den PCT entschieden habe war, dass ich auf dem Land aufgewachsen bin. Mir macht die Natur keine Angst. Viele Menschen, die in einer urbanen Umgebung leben assoziieren die Wildnis immer gleich mit großer Gefahr. So wie es uns Landeiern wohl mit dem Stadtleben geht, das wir für sehr gefährlich halten. Ich habe beides erlebt. Als ich auf dem Land aufwuchs, hat es mich jedes Mal zu Tode erschreckt, wenn wir nach St. Paul oder Minneapolis gefahren sind. Obwohl das nach amerikanischen Maßstäben keine riesengroßen Städte sind. Und ich habe oft erlebt, wie verunsichert Städter waren, die aufs Land kamen.

Also ja, auf dem Land aufgewachsen zu sein, war schon hilfreich auf dem Trail und ich denke, Sie haben Recht, natürlich auch das, was ich von meiner Mutter gelernt habe. Sie hatte so eine tiefe Bindung zur Natur und zu Tieren. Sie wusste so viel über Pflanzen und war nie glücklicher als in ihrem Garten oder wenn sie auf ihrem Pferd ausritt. Wie sehr sie mich damit beeinflusst hat, wurde mir erst auf dem Trail wirklich bewusst.“

 

Sie beschreiben sich selbst als Suchende, sagen aber auch, als Ihre Mutter starb, hätten Religion und Gott für sie versagt. Hat sich Ihre Beziehung zu Gott durch Ihre Wanderungen verändert? Sie hatten auf dem Trail eine Begegnung mit einem Fuchs, den Sie als Mum ansprachen, was man als durchaus spirituelles Erlebnis werten könnte.

„Ich würde nicht sagen, dass ich an Gott glaube. Aber ja, ich sehe mich schon als Suchende. Meine Interpretation von dem was göttlich ist, würde ich sehr viel weiter fassen, als es die großen Religionen tun. Ich denke, es gibt nicht wenige Menschen, die mit mir damit übereinstimmen, dass es eine Form göttlichen Geistes gibt, der in allem Lebendigem steckt und in der Natur um uns herum. Diese spirituelle Sicht hat sich für mich auf dem Pacific Crest Trail noch vertieft.“

 

Wie hat Ihnen die Wanderung geholfen, Ihre Trauer zu verarbeiten?

„Ich war so tief in meinem Schmerz gefangen, dass ich gar nicht realisierte, wie groß das alles noch werden würde. Nachdem ich Der große Trip veröffentlicht und darin so offen über meine Trauer geschrieben hatte, habe ich so oft die Rückmeldung von Lesern bekommen, was du da beschrieben hast, so ging es mir auch.

Sie verstehen, was ich durchgemacht habe, weil sie es entweder selbst erlebt haben oder gerade mittendrin stecken. Es war wichtig für mich zu erkennen, dass all die Gefühle nicht falsch waren, aber dass ich auch darüber hinwegkommen muss. Gerade die Tatsache, dass ich jeden Tag solche Strapazen durchlitt und auf ganz einfache Überlebensfragen konzentriert war, hat mir das Rüstzeug gegeben, mich meinem Verlust zu stellen, ihn anzunehmen und damit umzugehen.

Es war extrem traurig, dass sie nur 45 Jahre alt geworden ist und ich den Großteil meines Lebens ohne sie verbringen muss. Das wird mich auch immer traurig machen, aber ich kann inzwischen zurückblicken, ohne von dieser Trauer völlig übermannt zu werden. Ich war auf dem Trail so lange allein unterwegs, umgeben von so viel Schönheit der Natur. Die Tatsache, dass alles irgendwann sterben muss, auch diese Schönheit, die ich da jeden Tag vor mir sah, rückte alles in die richtige Perspektive für mich. Es hat meiner Seele Frieden gegeben. Auch wenn ich zugeben muss, dass mich bis heute, ihr Verlust manchmal wie ein Keulenschlag trifft.

Am 18. März als sich ihr Todestag jährte, war ich gerade dabei die Wäsche aus der Maschine zu nehmen, als ich aus heiterem Himmel hemmungslos losheulte. Und plötzlich war alles wieder da. Der Schmerz, die Trauer, der Verlust, die Wut, dass sie so früh gestorben ist. Aber ich habe auf dem Trail gelernt damit umzugehen. Es wird immer da sein, aber ich weiß nun, dass ich es ertragen kann.

Man könnte sagen, mein superschwerer Rucksack, den ich kaum hochheben konnte, war gewissermaßen die symbolische Bürde, die ich lernen musste über eine so lange Strecke zu tragen. Und ich habe es geschafft, also kann ich auch die seelischen Bürden schultern. Ich glaube, wir alle gehen durch solche Zeiten in unserem Leben und wir lernen jeder auf seine Weise, dieses Gewicht zu tragen. Wir müssen einfach, sonst können wir den Weg nicht weitergehen.“

Gab es je Momente des Zweifels?

„Jede Menge. Es gab oft Situationen in denen ich dachte, was zur Hölle mache ich hier eigentlich? Aber genauso oft habe ich gewusst, ich tue das richtige. Und genau das hat mich weitergehen lassen, wenn es mir schlecht ging.“

Es schien mir so, dass Ihnen die Begegnungen mit Menschen außerhalb des Trails mehr Angst gemacht haben, als das Zusammentreffen mit Bären, Klapperschlangen oder anderen Wildtieren auf dem Trail.

„Da ist wirklich was dran. Ich meine, seien wir mal ehrlich: Der Mensch und da vor allem die männliche Version, gehört zu den gewalttätigsten Kreaturen auf diesem Planeten oder? Ich glaube, dass es so ist, hängt mit der Perspektive dessen zusammen, der in der Situation ist. Mir machte die Natur einfach keine Angst, ich sah mich gewissermaßen ja als ein Teil von ihr. Keins der als gefährlich eingestuften Tiere, wie Bären; Pumas oder Klapperschlangen hat mich angegriffen oder hätte das auch nur in Erwägung gezogen. Es gab Begegnungen und dann ging jeder wieder seines Weges.“

Sie haben das Alleinsein auf dem Trail sehr genossen. Gab es auch Momente, in denen Sie sich einsam fühlten?

„Die meiste Zeit war es mir nur recht allein zu sein. Aber es gab immer mal wieder Momente, in denen ich mir gewünscht habe, auf einen anderen Hiker zu treffen. Die meiste Zeit war ich mir selbst genug. Ich bin eher so der Typ einsamer Wolf, deshalb wusste ich das Alleinsein zu schätzen.“

Wie war es denn für Sie anzukommen?

„Da war dieses unglaubliche Glücksgefühl. Ich war ekstatisch. Ich kann mich an kaum einen anderen Tag in meinem Leben erinnern, an dem ich so pure Freude empfand.“

Würden Sie den Trail wieder abwandern?

„Die Antwort ist ein definitives Ja. Denn ich habe so viel aus dieser Zeit für mich mitgenommen. Es war rückblickend einfach eine großartige Sache, auch wenn ich dort wohl die härteste Phase meines Lebens durchgemacht habe. Natürlich war da auch jede Menge körperlicher Schmerz, es war mal sehr heiß, dann wieder extrem kalt. Aber am Ende war ich glücklich, dass ich das alles gemeistert habe, dass ich mich davon nicht habe klein kriegen lassen.“

Das Interview führte Claudia Hötzendorfer

Buchtipp:

Cheryl Strayed

Der große Trip – Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst

(Goldmann 2014)

Homepage der Autorin:

http://www.cherylstrayed.com/

Filmtipp:

Wild – der große Trip

Verleih: Fox

Start: 15. Januar 2015

Länge 125 Min.

Regie: Jean-Marc Vallee

Darsteller: Reese Witherspoon, Laura Dern u. a.

Drehbuch: Nick Hornby

Trailer: http://www.fox.de/der-grosse-trip-wild

© 2015 Claudia Hötzendorfer – Silent Tongue Productions