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Interview: Dr. Wighard Strehlow

Seit Dr. Wighard Strehlow in den 1980er Jahren das erste Mal ein Buch der Äbtissin Hildegard von Bingen in die Finger bekam, hat ihn das was die Nonne der Nachwelt an Heilwissen hinterließ, nicht mehr losgelassen. Er gab seinen Posten in der Pharmazie auf und trat die Nachfolge von Dr. Herzka an, dem Wiederentdecker der Hildegard-Medizin. Heute gilt Wighard Strehlow als der Experte auf diesem Gebiet.

Können Sie sich noch an den Moment erinnern, in dem Sie zum ersten Mal von Hildegard von Bingen hörten?

Ich war in der Pharmaindustrie im Ressort Naturheilkunde beschäftigt. Anfang der 1980er Jahre ging der Trend in Richtung Natur. Unter Pharmazeuten findet man kaum jemanden, mit dem man über dieses Thema vernünftig sprechen kann. In Konstanz gab es jedoch einen Arzt, Dr. Herzka, der in seiner Praxis Naturheilverfahren anwandte. Den habe ich aufgesucht und mit ihm über die Produkte diskutiert, die wir auf den Markt bringen wollten. Als er mir sagte, dass all das schon im 12. Jahrhundert bekannt war, hat mich das natürlich sehr überrascht. Ich fragte ihn, woher er das denn wisse, daraufhin schenkte er mir das Buch Causae et Curae (Ursachen und Heilungen) von Hildegard von Bingen. Darin beschrieb sie Pflanzen und Methoden, auch die Moxibustion, die damals das Thema überhaupt war. Wir hatten geplant, sie als Neuheit aus der asiatischen Medizin in Europa vorzustellen, dabei war sie schon im Mittelalter bekannt. Daraufhin habe ich Dr. Herzka immer wieder besucht. Er war bereits 70 Jahre alt und suchte einen Nachfolger. Ich habe mit ihm bis zu seinem Tod 1997 zusammengearbeitet.

Wo sehen Sie Möglichkeiten und Grenzen der Hildegard-Medizin?

Möglichkeiten gibt es unendlich viele, denn Hildegard hat 2000 Behandlungsmethoden hinterlassen. Allein auf dem Gebiet der Ernährung sagte sie, lägen die Hauptursachen vieler Krankheiten. Zwischen 40 und 55 % aller Faktoren, warum jemand erkrankt, basieren auf einer falschen Ernährung. Der Dinkel ist unser Hauptheilmittel für Magen und Darm. Er ist auch ein Prophylaktikum für viele Krankheiten und Krebsarten. Es gibt eine amerikanische Studie: Prevention of Cancer by Food and Nutrition, die über fünf Jahre lief initiiert vom World Cancer Research Fond und der American Cancer Society. Dabei stellte sich heraus, dass die Ursachen für eine Krebserkrankung zu 40 % in der Ernährung und zu weiteren 40 % im Lebensstil liegen. Das heißt im Umkehrschluss: Wenn Sie wüssten, was Sie essen und trinken sollten und wenn Sie den Stress beseitigen (Beziehungen, Mobbing und all das, was wir heute so als Stress bezeichnen) und anstelle dessen das harmonische Gleichgewicht wieder herstellen, ließe sich die Krebsrate in der westlichen Welt um 80 % reduzieren.

Was sollten Laien beachten, wenn Sie sich mit der Hildegard-Medizin beschäftigen?

Wir haben eine gemeinnützige Stiftung gegründet, deren Aufgabe es ist, die Bevölkerung zu informieren, wie man durch die Ernährung Krankheiten verhüten kann. Wir haben dazu auch einen Film gedreht, den man sich bei YouTube kostenlos ansehen kann. Er zeigt, wie leicht die Gerichte zubereitet werden können und wie schmackhaft sie sind. Außerdem bieten wir im Internet eine kostenlose Sprechstunde an. Man kann die Indikation anklicken (Schnupfen, Husten, Heiserkeit, Magenschmerzen, Sodbrennen etc.) und bekommt kostenlos das von Hildegard beschriebene Heilmittel genannt und wie man es einsetzen kann. Es gibt einige Ärzte und Heilpraktiker die mit der Hildegard-Medizin arbeiten. Wenn man ernsthaft krank ist, sollte man die auch aufsuchen. Sie untersuchen, wie jeder andere Arzt, nur dauert die wirklich eine Sprechstunde lang und nicht nur ein paar Minuten. Dabei kommen auch die psychosomatischen Ursachen auf den Tisch. Macht man das nicht, kann man Krankheiten nicht verstehen. Nach der Untersuchung werden spezielle Behandlungsmethoden wie die Moxibustion oder der Aderlass eingesetzt. Letzterer ist die wichtigste Anwendung, die wir in der Hildegard-Medizin anbieten können.

Wenn Sie Hildegard heute treffen könnten, was würden Sie sie gern fragen?

(lacht) Wie können wir die träge Masse Menschen spirituell aufwirbeln, damit ihnen die größeren Zusammenhänge bewusst werden? Mein Leben, meine Gesundheit, meine Verantwortung! Die Leute denken, man nimmt am Leben teil, arbeitet und wenn man stirbt, war es das eben. Aber wo ist dann das Leben geblieben? Visionen sind das Stichwort. Ich muss für mein Leben eine Vision haben, sonst kann ich doch einpacken. Wenn ich nicht weiß, was ich mit meinem Leben sinnvoll anstelle, weiß ich auch nicht, warum ich überhaupt lebe, warum ich überhaupt bin. Wie bekomme ich mehr spirituelle Kraft in mein Leben, wie bekomme ich mehr Energie, um meine Gesundheit zu erhalten? Das wäre eine wichtige Frage, ich ihr gern stellen würde.

In Hildegards Weltsicht spielt der Glaube eine sehr große Rolle. Wie sehen Sie die Beziehung zu Glaube und Spiritualität aus heutiger Herangehensweise?

Man muss den Glauben davon trennen, was die Kirche macht. Das hat Hildegard auch so gehalten. Wir wissen, dass Hildegard oft gegen die Kirche rebelliert hat. Sie hat nicht zugehört, wenn die Leute ihre Dogmen predigten oder auf Kreuzzüge gingen und Politik mit Glauben verwechselten. Das muss man deutlich unterscheiden. Hildegard ist ganz klares Christentum. Bei ihr geht es darum, welchen Auftrag jeder einzelne Mensch als Individuum auf dieser Welt hat. Nach Hildegard sind alle Menschen Gottes Kinder. Alle haben den Auftrag friedlich und harmonisch zusammenzuleben, egal welche Hautfarbe, wie dick der Geldbeutel ist oder auf welchem Kontinent man lebt. Was einem geschieht, geschieht uns allen. Das ist die kosmische Beziehung, die Hildegard ausgearbeitet hat. Sie hat immer klar ihre Meinung gesagt, auch Kaiser Barbarossa, den sie warnte, wenn du in diesen Krieg ziehst, wirst du sterben. Sie hat Recht behalten, er ist gestorben.

Im Ihrem Buch Hildegard-Medizin sind Krankheiten erwähnt, die zu Hildegards Zeit so noch nicht bekannt waren. Wie wird ihre Heilkunde in solchen Fällen angewendet, entwickelt sich das überlieferte Wissen weiter, wird sozusagen aktualisiert?

Wenn ich beispielsweise Mukoviszidose nehme weiß ich, dass im Dinkel eine Substanz enthalten ist, die Thiozyanat heißt. Das hat die Eigenschaft, den Solzustand einer Substanz etwa vom Schleim in einen Gelzustand zu überführen. Das heißt, der festsitzende Schleim wird durch Thiozyanat verflüssigt. Mit dem Wissen im Hinterkopf kann ich einem Mukuviszidose-Patienten Dinkel zu essen geben, um festzustellen ob er dadurch besser Abhusten kann. Das haben wir in einigen wenigen Fällen in meiner Praxis feststellen können. Ich habe nicht so viele Patienten, die an dieser Krankheit leiden.

Erdbeeren, Pfirsiche, Pflaumen oder Lauch nannte sie Küchengifte. Was raten Sie all jenen, die darauf nicht verzichten wollen?

Wenn Hildegard solche scharfen Warnhinweise gibt wie, wer Erdbeeren isst, darf sich nicht wundern, wenn Fäulnis ins Blut kommt, dann ist da auch was dran. Ich habe bei keiner anderen Frucht beobachtet, wie hoch die Rate der Ekzeme und Allergien ist, als in der Zeit, in der Erdbeeren gegessen werden, also Mai und Juni. Besonders bei Kindern blühen die Neurodermitis und ähnliche Hautkrankheiten auf. Lässt man die Erdbeeren hingegen weg, treten diese Allergien nicht mehr auf. Ich bin dem nachgegangen und habe herausgefunden, dass zwei Faktoren eine Rolle spielen:

  1. Sie sind Histaminhaltig und kurbeln die eigene Histaminsynthese an.
  2. Wachsen sie so dicht über dem Boden, dass Fäulnisgase, wie Methan, von der Erdoberfläche aufgenommen werden. Da es sich dann auch in den Früchten befindet, nehmen es die Menschen über die Beeren auf, was entsprechende allergische Reaktionen auslösen kann.

Nicht alle fallen gleich tot um, wenn sie mal eine Erdbeere essen. Seitdem ich das weiß, esse ich persönliche keine mehr. Obwohl ich früher Schrebergärten hatte und es gab im Mai nichts Schöneres als Erdbeeren mit Schlagsahne für die ganze Familie.

Genauso ist es mit den Pfirsichen. Pflaumen regen die Gallenproduktion an. Im Lauch wiederum ist sehr viel Schwefel enthalten. Wenn Rheumatiker eine Lauchsuppe essen, kann dadurch der Schub wieder aufblühen und die Schmerzen kommen wieder.

Auch Rohkost ist in der Hildegard-Küche tabu. Wie reagieren die Anhänger dieser Ernährung auf die Warnungen der Äbtissin?

Natürlich haben Vegetarier und Veganer entsprechend reagiert. Ich will das gar nicht mal polemisieren, denn wenn die Rohköstler zu mir kommen, mache ich immer eine Darmanalyse. Das heißt, ich schaue mir die Darmflora an. Die meisten Rohköstler haben eine fürchterliche Darmflora mit Pilzen etc. Die Leute, die rohes Gemüse essen, müssen es im Darm aufbereiten. Da die Darmflora aber nicht in der Lage ist, diese Sachen aufzuspalten. Es handelt sich um komplexe langkettige Kohlehydrate, die Phytine enthalten. Darin wiederum stecken die Wertstoffe, Mineralien oder Vitamine. Ohne Kochvorgang kommt man da aber nicht ran. Das in Karotten enthaltene Karotin gelangt also nie ins Blut, wenn Sie die Möhren roh verzehren. Es sei denn, Sie kochen die Karotten mit einem Stich Butter. Denn das Pro Vitamin A ist fettlöslich. Sie brauchen also die Butter, um das Vitamin zu lösen.

Die Hildegard-Küche ist ziemlich klar strukturiert und setzt vor allem auf Dinkel in vielen Rezeptvarianten. Im bereits erwähnten Film auf YouTube sind z. B. Kokosflocken oder Zucchini zu sehen. Die kannte Hildegard nicht. Wie lassen sich solche Obst- und Gemüsearten in die Hildegard-Küche integrieren?

Es ist in der Küche ähnlich wie bei der Behandlung von Krankheiten, durch Ausprobieren gewinnt man Erkenntnisse. Hildegard hat schon über Palmen geschrieben und über Kokos. Aber sie schrieb nicht über irgendwelche Heilmittel daraus. Ich bin ein sehr großer Fan von Polynesien. Ich stelle immer wieder fest, wenn ich dorthin reise, dass die Menschen enorme Mengen Kokosmilch, Kokosbutter oder Öl zu sich nehmen. Mit Schrecken habe ich die gefragt, wie sie gesättigte Fettsäuren zu sich nehmen können in solchen Mengen. Dann schaue ich mir diese Menschen an, das feine Hautbild, wie schlank sie sind und wie niedrig die Herzinfarktrate dort ist. Also habe ich mich schlau gemacht und dabei festgestellt, dass es sich beim Kokosfett um eine so genannte mittelkettige Fettsäure handelt. Sie besteht nicht aus C18 Kohlenstoffen sondern nur aus C8 oder C12 und kommt gar nicht in die Fettspeicher des Körpers wie Butter oder andere Fette. Vielmehr gelangt sie gleich in die Leber, wird in Energie umgewandelt und abgebaut. Hinzu kommt, dass Kokosbutter oder –öl, wenn man es erhitzt, immer farblos bleibt, weil es gesättigt ist und nicht durch das Erhitzen oxidiert. Jedes andere Fett wird braun. Alle Oxidate sind krebserregend. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Kokosfett in der Küche zum Braten verwendet, das einzige nicht krebserregende Fett ist. Der pharmazeutische Vorteil ist der, dass das Kokosfett in der Lage ist die Zellwende von Viren und Bakterien zu befreien, indem es sie auflöst. Man kann also sagen, es ist das beste natürliche Antibiotikum der Welt, es gibt nichts Besseres.

Claudia Hötzendorfer

Fotos: Archiv Strehlow

Weitere Informationen und Kontakt

Kurhaus Hildegard
Strandweg 1
78476 Allensbach
Tel.: 0 75 33/74 33 – Fax: 74 79
www.hildegardmed.de
e-Mail: hildegardpraxis@st-hildegard.com

Link zum Film Ein Tag in der Hildegard-Küche

Buchtipps: (Auswahl)

Dr. Wighard Strehlow
Die Ernährungstherapie der Hildegard von Bingen
(Droemer/Knaur 2009, 544 S. € 19,95)
Das Hildegard-von-Bingen-Kochbuch
(Heyne 2008, 229 S., € 7,95)
Die Heilkunde der Hildegard von Bingen
(Lüchow 2004, 400 S., € 22,95)

Dr. Wighard Strehlow/Matthias Krieger
Verletzungen heilen
(Knaur 2007, 170 S., € 7,95)