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Interview: Lale Akgün blickt hinter die Kulissen der Berliner Politik

Ein Direktmandant brachte Lale Akgün 2002 von Köln nach Berlin, ins Zentrum der politischen Macht. „Ich dachte, das ist eine ganz andere Welt. Da wird ganz große Politik gemacht. Ich war überrascht, wie viel Normalität dort herrscht“, gibt sie schmunzelnd im Gespräch zu. Was sie in der Hauptstadt in den letzten sieben Jahren erlebte, hat Lale Akgün in einem kurzweiligen Buch mit dem Titel „Der getürkte Reichstag“ zusammengefasst.

 

Sieben Jahre pendelte Lale Akgün zwischen ihrer Wohnung in Köln und ihrem Arbeitsplatz in der Hauptstadt. Mit der Wahlniederlage im Oktober 2009 musste die Sozialdemokratin sich auch von ihrem Mandat verabschieden. Seit Anfang Juli steht Lale Akgüns Schreibtisch in Düsseldorf und sie beschäftigt sich mit internationalen Beziehungen.

Zwei Bücher hat Lale Akgün inzwischen geschrieben. Im aktuellen – „Der getürkte Reichstag“ – plaudert sie munter aus dem politischen Nähkästchen und dem Alltag ihrer türkischen Familie. Mit Claudia Hötzendorfer traf sich Lale Akgün in einem Düsseldorfer Café. Die Mutter einer Tochter verrät, warum sie in die Politik ging, wie sie mit den hohen Erwartungen ihrer Wähler umgeht und wie wichtig ihr die Meinung der Jugend ist.

Wie sind Sie auf die Idee zum Buch gekommen?

„Ein guter Freund meinte, ihr seid eine Familie von Geschichtenerzählern. Du solltest die Geschichten mal aufschreiben und das habe ich versucht.“

Was hat Sie bewogen in die Politik zu gehen?

„Ich komme aus einer politischen Familie. Mein Vater war überzeugter Sozialist. Ich war schon lange passives Parteimitglied, als man mich fragte, ob ich nicht bereit wäre zu kandidieren. Es gab noch nie ein Direktkandidat in diesem Wahlkreis mit einem türkischen Namen. Da war klar, dat mach ich!“

Im Buch holen sie die Politik aus ihrem Elfenbeinturm im fernen Berlin in den Alltag am Beispiel Ihrer Familie. War es Ihnen wichtig, dem Leser zu vermitteln, wie sehr die Politik unser Leben bestimmt?

„Das war mir sehr wichtig. Zum einen wollte ich auf keinen Fall im Buch darüber schreiben, wie ich Herrn und Frau Wichtig traf, um darüber zu beraten, wie wir die Welt retten können. Aber leider kam bei der Umsetzung etwas dazwischen. Mit anderen Worten, das letzte was ich wollte waren diese typischen Politikermemorieren. Das ist so, als würde ich die Menschen an der Scheibe lecken lassen. Ich möchte aber, dass die Menschen mit mir durch die Tür gehen und reinkommen. Ich mag keine Bücher, die eine Glasscheibe errichten zwischen der Handlung und mir. Mir war es wichtig zu zeigen, letztendlich ist Politik ein normaler Job. Natürlich gibt es gewisse Rituale, die eingehalten werden müssen. Es wird immer so getan, als wäre das eine ganz andere Welt, fernab vom Alltag. An diesem verzerrten Bild sind meiner Meinung nach vor allem die Medien schuld. Denn die transportieren die Politiker abgehoben, sich in einer Welt bewegend, in der Normalsterbliche keinen Zugang haben. Sie fahren dicke Autos, haben Sitzungen hinter verschlossenen Türen, Bodyguards und Skandale, Skandale, Skandale. Dass ein Politiker die meiste Zeit jedoch am Schreibtisch sitzt, Akten liest, schreibt, Vorträge hält oder anhört, ist den meisten Menschen einfach nicht klar. Viele Bürger glauben, in Berlin meets Hollywood Bayreuth. Das ist aber nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Scheinwirklichkeit.“

Wie geht denn Ihre Familie mit Ihrer Offenheit in den Büchern um?

„Ich erwähne niemanden, den ich nicht vorher gefragt habe, ob er damit einverstanden ist. Mein Mann beispielsweise spielt in den Büchern ja keine unwichtige Rolle. Als ich ihm das Manuskript zum Lesen gab, meinte er, er hätte noch mehr gelacht als beim ersten Buch. Mir war es wichtig die Normalität einer Politikerfamilie zu beschreiben. Denn für viele ist ein Politiker in der Regel ein Mann, dessen Ehefrau ihm den Rücken freihält. Bei uns ist alles anders. Zunächst einmal sind wir eine türkische Familie. Dann ist der Politiker in dieser Familie auch noch eine Frau, deren Mann ihr – im Rahmen seiner Möglichkeiten – den Rücken frei hält. (schmunzelt) Diese Klischees stimmen einfach nicht. Die Politikerfrauen, die sich auf Charity Vcranstaltungen sehen lassen, damit ihr Mann einen besseren Ruf bekommt, sind eher die Ausnahme als die Regel.“

Ihr Neffe Lukas hat einen sehr gute Einschätzung der Politik. Wie wichtig ist Ihnen der Austausch mit Jugendlichen?

„Das ist mir ein Herzensanliegen. Deshalb versuche ich auch mit dem Klischee aufzuräumen, dass die Jugendlichen heute nur Spaß wollen und sich für nichts anderes Interessieren. Natürlich wollen die samstags auch mal in die Disko. Das ist auch völlig in Ordnung. Aber wir liegen völlig falsch, wenn wir glauben, dass wir nur eine ich-will-Spaß-Generation vor uns haben. Im Gegenteil, viele lesen und diskutieren. Ich bin immer sehr beeindruckt, wie viel ich noch von ihnen lernen kann. Es sind weit mehr junge Leute politisch interessiert, als wir uns vorstellen können. Nur müsste die Politik ihnen auch die Tür öffnen. Denn das, was die Jugend erwartet, finden sie oft in den Parteien nicht wieder. Wir haben beispielsweise im Familien- und Freundeskreis viele junge Leute, die sich bürgerrechtlich engagieren, beispielsweise bei Amnesty International, in Umweltorganisationen oder dem Roten Kreuz. Wenn man ihnen aber vorschlägt in eine Partei einzutreten, lehnen sie ab. Das Engagement und Interesse ist da. Themen wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, eine Welt für uns alle, sind bei den Jugendlichen stark vertreten. Aber das sind Themen, die sie auch in den Parteien wieder finden müssen.“

Die Wähler gehen nicht gerade zimperlich mit Ihnen um. Wie kommen Sie mit solchen verbalen Angriffen klar?

„Das ist das schwierigste an diesem Beruf für mich. Allerdings bin ich beruflich vorgebildet, denn ich bin approbierte Psychotherapeutin. So kann ich vieles auffangen und mir selbst klar machen, du bist nicht gemeint. Es ist die Institution, die gemeint ist. Allerdings bin ich auch noch nie in meinem Leben so sehr beschimpft worden, als während meiner Zeit in der Politik. Die Leute nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie bezeichnen einen als Verbrecher, korrupt, faul usw. Auf der einen Seite ist da eine unheimlich hohe Erwartungshaltung. Die Leute kommen in meine Sprechstunde und fragen als erstes, was tust du für mich? Ich frage dann zurück, hast du einen eigenen Abgeordneten in Berlin? Dann kommt, was tust du für den Stadtteil? Dann antworte ich, ich sitze im Bundestag und nicht in der Bezirksverwaltung. Also schimpfen sie, wir tun nichts. Es ist, als ob man eine Zauberstab hätte und zack jedes Problem lösen könnte. Übrigens in allen Bereichen, auch in sehr persönlichen Dingen. Ich schwöre, die Geschichten, die ich im Buch über die Besucher meiner Sprechstunde beschreibe, sind nicht erfunden. Die sind alle so passiert. Manchmal kam ich aus dem Büro und dachte, ich muss mich mal kneifen. Mit der Zeit brüht man ab. Wenn man das zu nah an sich heranlassen und mit nachhause nehmen würde, ginge man bald auf dem Zahnfleisch. Wenn mein Mann mich begleitet hat und sah, wie ich teilweise angegriffen wurde – etwa in der Zeit der Einführung von Hartz IV – wunderte er sich immer, wie ich die Nacht darauf tief schlafen konnte. Er hatte kein Auge zubekommen. Wenn man allerdings alles an sich abperlen lässt, wird das auch schnell zum Nachteil ausgelegt. Es ist immer eine Gradwanderung. Schauen Sie nur einmal in Internetforen, wie dort über Politiker hergezogen wird.“

Wie wichtig ist in dem Zusammenhang die Familie für Sie?

„Sehr. Und sie hat sehr darunter gelitten, als ich sieben Jahre lang zwischen Berlin und Köln gependelt bin. Deshalb war sie auch sehr erleichtert, als wir im Oktober letztes Jahr die Wahl verloren haben.“

Vermissen Sie die Berliner Zeit?

„Die erste Zeit schon, weil ich dort in einem so hohen Tempo gelebt und gearbeitet habe, dass es schwer war, plötzlich ein paar Gänge runter zu schalten. Aber nach ein paar Monaten Auszeit, habe ich meinen Rhythmus wieder gefunden.“

Wenn Sie zurückschauen, konnten Sie einige Ihrer Wünsche und Ziele in Berlin verwirklichen bzw. erreichen?

„Zum Teil ja. Ich bin natürlich der Teil einer Fraktion. Ich kann mich nicht hinstellen und sagen, die große Politik bestimme ich. Als Wahlkreisabgeordnete und Teil des Ganzen, muss man Kompromisse eingehen. Obwohl ich es ein paar Mal gewagt habe, gegen die Fraktion zu stimmen. Beispielsweise als es um den Einsatz in Afghanistan ging. Und die Zeit hat mir Recht gegeben. Ich bin sehr froh, dass ich damals auf meine innere Stimme gehört habe. Ich habe es außerdem geschafft, in einem sehr konservativen Wahlkreis zweimal wieder gewählt zu werden. Das war wichtig für das Thema Integration. Denn es zeigt, ich bin angekommen. Ich bekomme sehr viel Post und viele Mails von jungen Menschen türkischer und arabischer Herkunft, die mir schreiben, ich sei ihr Vorbild. Verlieren sie nicht ihren Humor. Heute Morgen habe ich noch eine Mail bekommen, da schrieb mir eine junge Frau, toll – dass sie noch so viel Power haben. Denn sie sind doch schon eine alte Frau. (lacht). Na ja für eine 23jährige bin ich natürlich eine alte Frau. Immerhin habe ich bewiesen, dass im Bereich Integration viele Dinge möglich sind. Ich habe für mich ganz klare neuralgische Punkte zum Thema Integration gewählt. Einige ließen sich umsetzen, andere nicht, weil sie an bestimmten Leuten gescheitert sind.“

Haben sich Ihre Erwartungen in Bezug auf Berlin erfüllt?

„Ich muss zugeben, auch ich bin vor Vorstellungen nicht gefeit, die Menschen allgemein vom Politbetrieb haben. Ich dachte auch, dass ist eine ganz andere Welt, da wird große Politik gemacht. Ich war dann doch überrascht, wie viel Normalität dabei ist.“

Welchen Aufgabenbereich beackern Sie nun in Düsseldorf?

„Internationale Beziehungen.“

Wird es eine Fortsetzung zum „getürkten Reichstag“ geben?

„Das hängt davon ab, wie das Buch bei den Lesern ankommt. Meine nächste Veröffentlichung wird allerdings ein Sachbuch, in dem geht es um den modernen demokratischen Islam. Wie er aussieht und aussehen könnte, wenn die konservativen Kräfte nicht so stark wären.“

Wann finden Sie die Zeit zum Schreiben?

„Das Sachbuch habe ich geschrieben in der Phase nach dem verlorenen Mandant im Oktober 2009 und dem Wiedereintritt in den Job im Juli dieses Jahres. Ich habe die Zeit kreativ genutzt und meine Frustration in Energie umgewandelt. Ich schreibe gern. Ich veröffentliche zwischendurch auch Kommentare und Artikel in Fachzeitschriften und Zeitungen. Ich bin als Autorin eine Künstlerin. Ich will keine Message rüberbringen. Denn dann wird das Buch schlecht. Bücher, die eine Botschaft haben lese ich selbst nicht gern und ich finde, dass sind dann auch keine Bücher mehr sondern Propagandamaterial. Ich schreibe impressionistisch. Die Kunst dient der Kunst. Das Buch dient zum Lesen.“

Das Interview führte Claudia Hötzendorfer

Buchtipps:

Lale Akgün

„Der getürkte Reichstag“

(Krüger 2010, 255 S., € 14,95)

„Tante Semra im Leberkäseland“

(Fischer 2009, 254 S., € 8,95)